Das rauchende Hirn will Blumen gießen
Von Julia Harwardt
Zum Weltnichtrauchertag 2022 bin ich genau 514 Tage rauchfrei – und nach ebenso zahl- wie erfolglosen „Ausstiegsversuchen“ irrsinnig froh darüber. Ich habe viele Jahre geraucht, von Zeit zu Zeit aufgehört, dann doch wieder angefangen, mal mit mehr, mal weniger schlechtem Gewissen. Meistens mit mehr. Daher weiß ich jedoch, wie schwierig es sein kann, sich dieses (entschuldigen Sie dieses etwas moralinsaure Wort) „Lasters“ zu entledigen, und bin weit davon entfernt, mit erhobenem Zeigefinger über die schädlichen Folgen des Rauchens für Raucher, Umfeld und Umwelt zu referieren. Die kennt jeder Raucher zur Genüge, versprochen.
Neben den gesundheitlichen und finanziellen Vorteilen des Rauchstopps wird ein Aspekt in den meisten Hilfsangeboten und Informationsquellen, die off- wie online zuhauf zu finden sind, meines Erachtens jedoch ein wenig vernachlässigt, obwohl er – wie ich aus eigener Erfahrung wie auch aus Gesprächen mit anderen rauchenden Menschen weiß – einen erheblichen Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg der Rauchentwöhnung haben kann: nämlich Rauchen als (angeblichen) Quell von Kreativität und Entspannung.
Unser Job als Übersetzerinnen und Übersetzer kann ziemlich stressig sein. Wir müssen mitunter höchst komplexe Sachverhalte nicht nur verstehen, sondern auch korrekt, präzise und möglichst packend sowie natürlich formuliert in unserer Zielsprache wiedergeben. Kommt dann noch (wie so oft) Zeitdruck dazu, kann einen das ganz schön ins Schwitzen bringen. Außerdem bin zumindest ich bei konzentrierter Denkarbeit maximal eine Mittelstreckenläuferin: Wenn ich etwas Brauch- und Lesbares auf den Bildschirm bringen will, muss mein „rauchendes Hirn“ regelmäßig mal durchatmen.
Nun betrachtete ich meine Zigarettenpausen früher als adäquates Mittel, um beides – also Entspannung sowie Kreativität – gleichzeitig zu fördern, und redete mir lange Zeit ein, dass dies auch hervorragend funktioniere. Tat es aber nicht. Denn unterm Strich verlor ich durch die Raucherei deutlich mehr Zeit als ich Inspiration erlangte. Diese Erkenntnis erlaubte ich mir aber erst, nachdem ich mit dem Rauchen aufgehört hatte – denn vorher war mir mein (zugegebenermaßen noch jugendlich-rebellisch verklärtes) Selbstbild als kreative, nachdenklich vor sich hin sinnierende sowie dem gesellschaftlichen Gesundheitswahn trotzende Seele, die erst durch die (natürlich selbstgedrehte) Zigarette hundertprozentige Legitimation erlangt, einfach wichtiger. Abgesehen davon ist Rauchen überraschend zeitaufwändig, vor allem, wenn man wie ich seine Zigaretten selbst dreht und im Winter jedes Mal die volle Montur aus Schuhen, Jacke, Schal und Mütze anlegen muss, bevor man auf den Balkon geht. Aber auch das ist mir erst nach dem Rauchstopp klar geworden.
Mittlerweile habe ich viele andere Wege gefunden, um mich zu entspannen und kreative Übersetzungslösungen zu finden. Sport und Bewegung zum Beispiel sind nach langjähriger Pause heute wieder fester Bestandteil meiner Woche und verschaffen mir, man mag es kaum glauben, einen guten Ausgleich zur täglichen Sitzarbeit am PC. Da ich pandemieunabhängig immer im Homeoffice arbeite, kann ich meinem Hirn zwischendurch auch mit profanen Dingen den Luxus einer kleinen Verschnaufpause gönnen. Persönlich kann ich abwaschen oder Blumen gießen absolut empfehlen; auch den Müll rauszubringen oder eine Ladung Wäsche aufzuhängen hat sich bei mir bestens bewährt. Denn in dieser Zeit bin ich so mit völlig anderen Handgriffen und Abläufen beschäftigt, dass mein Hirn quasi neustartet und manchmal – und von mir völlig unbemerkt – Übersetzungsfragen, an denen ich mir vorher die Zähne ausgebissen habe, aus ganz anderer Perspektive betrachtet. Oft lasse ich mittendrin alles stehen und liegen, um auf einem Zettel oder direkt am PC schnell eine neue Idee für ein Übersetzungsproblem oder eine knifflige Formulierung festzuhalten, die mir plötzlich und völlig unerwartet durch den Kopf geschossen ist.
Der weithin bekannte Neustart funktioniert also nicht nur bei PCs, sondern auch unseren grauen Zellen ganz hervorragend. Und besser für Lunge und Geldbeutel ist er sowieso.