Digitale Ausgrabung: Das etwas andere persönliche Archiv
Von Kristin Fehlauer
Aus dem Englischen von Solveig Rose-Mollard
Vor Kurzem nervte mich Google damit, ich möge doch entweder E-Mails und Fotos von meinem Konto löschen oder aber meine Speicherkapazität erhöhen. Letzteres gibt es nicht kostenlos – und ich bin geizig. Daher bin ich nun dabei, mein Postfach aufzuräumen, in dem sich seit 2009 Mails ansammeln.
Natürlich kann ich nicht einfach mir nichts, dir nichts Nachrichten löschen, daher lese ich mich nun durch meine alte Korrespondenz. Das Ganze mutet wie eine digitale Ausgrabung an. Ich habe bei den ältesten Mails angefangen, als ich noch nicht lange in München lebte und noch dabei war, mich zurechtzufinden. Damals schloss ich mich einem neugegründeten englischsprachigen Chor an, der über mehrere Jahre einen festen Platz in meinem Leben – und damit auch in meinem Postfach – einnehmen sollte.
Aber auch andere Überbleibsel vergangener Zeiten grub ich aus den digitalen Untiefen meiner Inbox aus. Besonders hervor stechen die E-Mails über die Anmeldung bei längst vergangenen Online-Shops, bei denen ich für denkwürdige Veranstaltungen eingekauft habe wie Geschenke für runde Geburtstage oder Brautjungfernkleider für Hochzeiten. Auch Namen tauchen auf und verschwinden dann wieder von der Bildfläche. Klar – in den Expat-Gruppen, in denen ich von Anfang an sehr aktiv war, herrscht naturgemäß rege Fluktuation.
Ebenso wie sich mein Mailverkehr verändert, macht sich über die Zeit auch ein anderer Wandel bemerkbar: eine geografische Fokusverlagerung innerhalb der Stadt. Früher fuhr ich bis zur Endhaltestelle meiner U-Bahnlinie und nahm dann noch den Bus, um zu meinem Arbeitsplatz am Münchner Ostrand zu gelangen. Da meine Wohnung – in der ich seit meinem Umzug nach München lebe – im östlichen Teil der Stadt liegt, konzentrierte sich dort mein ganzer Alltag.
Dann wurde mein Standort an den Schnittpunkt von A9 und Mittlerem Ring im Münchner Norden verlegt. Nun führte mich mein täglicher Arbeitsweg nach Westen über die Isar ins Stadtzentrum, wo ich gen Norden umstieg. Dabei durchquerte ich Schwabing mit seinen vielen Geschäften, wo ich auf dem Heimweg oft noch Besorgungen machte. Ebenso wie Namen und Betreffzeilen nach und nach aus meinem Postfach verschwanden, verblasste auch die Reihenfolge der Haltestellen in östlicher Richtung von meiner Wohnung aus meinem Gedächtnis.
Ein paar Jobwechsel später arbeite ich nun im Münchner Viertel Untergiesing, das im Westen an die Isar grenzt, 20 Gehminuten von meiner Wohnung entfernt. Auch zu dem Studio, in dem ich jahrelang regelmäßig Krav Maga betrieb, waren es sowohl von meinem Arbeitsplatz als auch von meiner Wohnung aus nur 20 Minuten zu Fuß. Der Großteil meines Lebens spielte sich in diesem Dreieck in einem einzigen Viertel ab – manchmal setzte ich wochenlang nicht einen Fuß über den Fluss. Wenn es mich doch selten einmal ins Stadtzentrum verschlug oder gar bis nach Schwabing (was einer Weltreise glich), kamen alte Erinnerungen in mir hoch – ebenso wie nun meine E-Mail-Ausgrabungen wieder Namen und Gesichter aus früheren Zeiten zutage fördern.
Krav Maga gehört mittlerweile der Vergangenheit an, wodurch sich mein Fokus wieder verlagert hat, wenn auch nicht in eine gezielte Richtung. In letzter Zeit nehme ich öfter die U-Bahn und fahre einfach ein paar Haltestellen, um dann einen Teil des Rückwegs – oder auch alles – zu Fuß zurückzulegen. So entdecke ich auch die Winkel Münchens, in die es mich sonst nicht verschlagen würde. Die Fotos von diesen Ausflügen ins Unbekannte bilden eine weitere, neue digitale Schicht, durch die ich mich wahrscheinlich in ein paar Jahren wieder wühlen und vergessene Schätze bergen werde.