Hiraeth oder Faszination Acadia

Posted Oktober 5, 2020

Englisch

Von Kristin Fehlauer

Aus dem Englischen von Solveig Rose-Mollard

Vor einiger Zeit bin ich über ein ebenso klangvolles wie schwer greifbares walisisches Wort gestolpert: „Hiraeth“ lässt sich weder ins Englische noch ins Deutsche kurz und knapp übertragen. Ich fand dazu folgende Erklärung: „Die Sehnsucht nach dem Ort, an dem deine Seele lebt.“ Für mich ist das Acadia – oder, so der offizielle Name, der Acadia-Nationalpark.

Der Ort meiner Träume erstreckt sich größtenteils über die Insel Mount Desert Island vor der Küste des US-amerikanischen Bundesstaats Maine und erfüllt mich mit ständiger Sehnsucht – mal stärker, mal weniger stark. Denn nirgendwo anders fühle ich mich so glücklich, so zu Hause. Wenn ich die Wahl hätte, würde sie immer auf dieses Eiland fallen.

Mit der Insel ist es so wie mit Hiraeth: Es ist schwer zu beschreiben, was genau mich an ihr so fesselt. Es sind die unergründeten Geheimnisse ihrer Wälder und die Wunder der vom menschlichen Einfluss unberührten Natur. Es ist das tragische Schicksal der Evangeline aus Henry W. Longfellows Gedicht, das eng mit der Historie der Region verbunden ist. Ganz zu schweigen von der weitläufig unbekannten Geschichte der ersten Völker dort. Es ist die niemals ruhende See mit ihren unberechenbaren Launen.

Es ist die mannigfaltige Landschaft. Für mich gleicht die Insel mit ihren unterschiedlichen Ökosystemen einer mehrstöckigen Torte: Die erste Schicht beginnt auf Höhe des Meeresspiegels – am Atlantik. Darauf folgen das Litoral, der Strand, die Sümpfe und Bäche, Wiesen und Seen, die sanften Waldhänge, die sich schließlich zu meinem landschaftlichen Höhepunkt emporschwingen: dem blanken, glatten Granit, der sich vom Berg herab ergießt und der Insel ihren Namen gibt. Als Samuel de Champlain die vom zurückweichenden Gletscher freigelegten, abgerundeten Gipfel 1604 als Erster erspähte, nannte er seine Entdeckung „L’Isle des Monts Déserts“[1] – die Insel der kahlen Berge.

Es ist der Charme der kleinen, jedoch keineswegs rückständigen Küstendörfer. Dort bieten Fisch und Meeresfrüchte, Kunstgalerien, Museen über die Lokalgeschichte, Buchhandlungen im Taschenbuchformat, Spezialitätenläden, Laientheater und Programmkinos auch Naturmuffeln schier endlose Lebensfreuden.

Doch am wichtigsten ist wahrscheinlich, dass die Insel Teil meiner Familiengeschichte ist. Schon meine Großeltern verbrachten ihren Urlaub dort mit meinem Vater, als er noch ganz klein war. Später brachte er meine Mutter, meine Schwestern und mich auf die Insel und nun ist die nächste Generation dran. Auch außerhalb der Ferien hat mich der Ort geprägt: Einen Sommer lang absolvierte ich bei einem lokalen Musikfestival ein Praktikum, ein andermal hatte ich während der Kreuzfahrt-Hochsaison einen Ferienjob in einem Altstadtladen. Vor allem diese familiäre Verbindung macht die Insel also für mich zu etwas Besonderem, sodass ich mich sogar manchmal frage, ob ich mich wirklich nach dem Ort sehne oder vielleicht vielmehr nach meiner Kindheit – einer unbeschwerten Zeit, bevor Verpflichtungen und Sorgen des Erwachsenendaseins meine ohnehin knappen Aufenthalte dort allzu selten werden ließen.

Nachdem die Pandemie Reisen in die USA derzeit bestenfalls problematisch – um nicht zu sagen: unmöglich – macht, werde ich den Ort meiner Träume wohl frühestens 2021 wiedersehen. Bis dahin wird Hiraeth unweigerlich weiter in mir brennen.

[1] Aufgrund des französischen Wortursprungs sind sich Anglophone über die Aussprache des Wortes „Desert“ im Namen der Insel sowie einer ihrer größten Städte, Mount Desert (ohne Island), uneins. Während die einen es wie die englische Wüste aussprechen, betonen die anderen nach französischer Mundart die zweite Silbe, was für das englischsprachige Ohr aus der Wüste strenggenommen einen Nachtisch werden lässt. Persönlich halte ich mich bei der Insel an die Sahara und in Bezug auf die Stadt an den Schokokuchen.

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