Früh übt sich: 9-jähriger Dolmetscher rettet gestrandeten Ukrainer
Von Maria Wolf
Der gebürtige Ukrainer war im Mai 2018 mit seiner Tochter nach Deutschland gekommen, um als Zeitzeuge und Überlebender der Dachauer Außenlager der Einweihung der KZ-Gedenkstätte Mühldorfer Hart beizuwohnen. Klein Wolf Peters unterstützte die Veranstaltung mit seinem Dolmetscherteam für die englisch-, französisch-, russisch- und ungarischsprachigen Teilnehmer. In einer Pause erzählte uns Volodymyr Dshelali von seiner beschwerlichen Anreise. Als er und seine Tochter endlich die Koffer vom Gepäckband gezerrt hatten und sich hinter der Schiebetür des Sicherheitsbereichs erschöpft der Fürsorge des Fahrers vom Bayerischen Staatsministerium anvertrauen wollten, war dieser in der Menschentraube der wartenden Abholer nicht mehr zu finden. Der Flug hatte fünf Stunden Verspätung. Niemand fühlte sich für den schmächtigen Mann und seine Begleiterin zuständig. Weder er noch seine Tochter sprachen Deutsch oder Englisch. Auf ihren Unterlagen stand lediglich, dass sie abgeholt werden würden. Was nun?
Aus der Menge der Umstehenden war es schließlich ein 9-jähriger, in München zweisprachig aufgewachsener Russe, der auf das verlorene Paar aufmerksam geworden war und ihre Not erkannte. Nikolaj (Name v. d. Red. geändert) sprach sie auf Russisch an, erkundigte sich, wen sie suchten und half ihnen, den Fahrer ausfindig zu machen. „Ein Engel, ein Dolmetscher wie Sie!“, schloss Volodymyr schmunzelnd seine Erzählung.
Das war 2018. Aus heutiger Perspektive ist diese berührende Geschichte kein Einzelschicksal mehr. Hunderttausende Ukrainer haben in diesem Jahr noch schlimmere Odysseen hinter sich und konnten am Ziel ihrer Reise nicht immer auf Abholung hoffen. Viele unserer Russisch- und Ukrainisch-Kollegen sind im Dauereinsatz, um die Ankommenden zu unterstützen, meist weit über die reine Dolmetschleistung hinaus. Nicht selten vermischen sich in solchen Situationen sprachmittlerische mit sozialen Diensten, die das sprachliche, fachliche und interkulturelle Kompetenzrepertoire ausgebildeter Dolmetscher übersteigen. Professionelle Dolmetscher kennen ihre Grenzen und wahren die berufsethischen Grundsätze der Neutralität. In manchen Situationen ist man dennoch geneigt, sich für seine Klienten über die Sprachmittlung hinaus einzusetzen, bei Anlaufstellen Druck zu machen, zu beraten, ihnen bei der Unterkunftssuche zu helfen oder einfach auch nur mal ein empathisches Ohr zu leihen, ohne das Gehörte weiterzugeben – ein nicht zu unterschätzender Wert eines menschlichen (vs. Smartphone-)Dolmetschers, übrigens auch in weniger dramatischen Kontexten.
Im persönlichen Gespräch am Rande von Veranstaltungen kann man als Dolmetscher mit dem Herzen zuhören und damit oft eine Verbindung, ein Gefühl des Aufgehobenseins schaffen, das zum Wohlbefinden der sprachlich oft isolierten Teilnehmer beiträgt und so manches Eis bricht. Nebenbei erfährt man unvorstellbare Lebensgeschichten wie die von Volodymyr Dshelali (https://www.kz-gedenkstaette-dachau.de/nachrichten/volodymyr-dshelali-1925-2020/), der sich als Jugendlicher in der Ukraine dem Widerstand anschloss, nach eigenen Angaben beim „Herumschrauben“ an deutschen Wehrmachtsfahrzeugen erwischt, verhaftet und 1942 mit 17 Jahren nach Deutschland verschleppt wurde. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch als Zwangsarbeiter im Saarland wurde er im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Kurz vor Kriegsende gelang ihm schließlich die Flucht aus einem Arbeitskommando des Außenlagers Mühldorfer Hart. Bis zum Eintreffen der US-Army hielt er sich bei einem Bauern versteckt und überlebte so die menschenverachtenden Bedingungen des Lagers.
In zahlreichen lyrischen Werken verarbeitete der vielseitig talentierte spätere Musiklehrer seine Kriegserlebnisse. Als wir am Ende der Veranstaltung mit ihm und seiner Tochter noch auf einen Kaffee beisammensaßen, las er uns einige seiner russischen Gedichte vor. Der Sprache nicht mächtig, konnte ich mich nur am Klang erfreuen. Das bescheidene, liebevolle, verschmitzte Lächeln, das seine Worte begleitete, ließ nicht erahnen, wovon seine Gedichte handeln. Es war ihm ein Anliegen, Schicksale, Leiden und Tod von Verfolgten und Ermordeten unvergessen zu machen. Mehrmals besuchte er Dachau als Zeitzeuge und mahnte in seinen Reden immer wieder vor Krieg und Gewalt. Am 13. November 2020 starb Volodymyr Dshelali in seiner Heimatstadt Mariupol. 2022 blieb ihm erspart.
Die Veranstaltung ist vier Jahre her, aber die Begegnung mit Volodymyr Iwanowitsch Dshelali, seine Lebensgeschichte und sein Zeitzeugnis bleiben unvergessen und in ihrer Botschaft hoch aktuell. Die Menschheit produziert vielerorts täglich neue Zeitzeugen. Ihre Geschichten sind wichtig und sollten weltweit verbreitet werden, auch wenn sie vielfach auf taube Ohren stoßen. Als Übersetzer und Dolmetscher tragen wir gerne dazu bei, sie für alle verständlich zu machen, damit möglichst viele Menschen daraus Mahnung, Mut und Hoffnung schöpfen. Vielleicht wird auch Nikolaj eines Tages als Dolmetscher Zeitzeugnisse dieser Art dolmetschen.