Mein erstes Thanksgiving in Deutschland

Posted Dezember 18, 2017

Englisch

von Kristin Fehlauer, aus dem Englischen von Julia Harwardt

Ein völlig unterschätzter Feiertag

Für Amerikaner ist Thanksgiving ein besonderer Feiertag: Er ist der Auftakt in ein langes Wochenende und die (von vielen geliebte) Weihnachtszeit, der verrückteste Reisetag des Jahres und wird von nahezu allen Amerikanern ungeachtet von Glaube und Abstammung gefeiert. Und vielen geht es neben Essen, Football und Dankbarkeit vor allem um die Familie.

Für mich als Kind war Thanksgiving selbstverständlich, ein fester Teil jedes Kalenderjahres; Pläne brauchte ich keine, ich feierte dort, wo meine Eltern feierten. Später gab es noch die Möglichkeit, beim Homecoming unserer Highschool das große Football-Spiel zwischen den beiden Rivalen meiner Heimatstadt anzusehen. Auch während meiner College-Zeit und meines ersten „richtigen“ Jobs lebte ich nahe genug bei meiner Familie, dass meine Antwort auf die Standardfrage, wo ich denn Thanksgiving verbringen würde, auf der Hand lag.

Im Einsatz für Thanksgiving

Spulen wir vor ins Jahr 2002: Nachdem ich die USA erstmals verlassen hatte, assistierte ich im Englischunterricht an einer Grundschule in Rostock, wo ich nicht nur die richtige Aussprache, sondern auch kulturelle Aspekte und meine persönlichen Erfahrungen als Amerikanerin vermitteln sollte. Als mein Betreuungslehrer fragte, ob ich den Schülern Ende November nicht etwas über Thanksgiving erzählen könnte, sagte ich sofort begeistert zu.

Ich machte mir Gedanken, was ich genau sagen und wie ich das Interesse der Kinder wecken würde – ich brauchte natürlich unbedingt Anschauungsmaterial. Zum Glück hatte meine Mutter, die Meisterin der Care-Pakete, mich mit einigen Dosen von Libby’s® Fertigfüllung für Kürbis-Pie ausgestattet, die ich in der Klasse herumgehen lassen könnte. Aber es fehlte noch etwas zum Mitmachen … Natürlich: Wir könnten einen Handtruthahn basteln!

Wenn Sie nicht wissen, was ein Handtruthahn ist, fragen Sie den erstbesten Amerikaner, er wird es Ihnen erklären: Man legt seine Hand mit gespreizten Fingern und der Handfläche nach unten auf ein Blatt Papier, zeichnet den kompletten Umriss ab dem Handgelenk nach, nimmt die Hand weg und schließt diese Figur dann mit einem Strich von der einen Seite des Gelenks zur anderen ab. Anschließend bemalt man den Daumenumriss wie einen Truthahnkopf, die anderen Finger in herbstlichen oder truthahntypischen Farben. Fertig ist der beliebte Handtruthahn, ein echter Klassiker, auch wenn seine Form nicht ganz naturgetreu ist.

Als ich das Klassenzimmer der Erstklässler betrat, war ich überzeugt, dass sie gespannt meinen Ausführungen über den Brauch des ihnen fremden Landes lauschen und mich mit Fragen bombardieren würden, um mehr Geschichten über Thanksgiving zu hören. Begeistert und hingebungsvoll würden sie ihre Handtruthähne basteln, die ihre Eltern zuhause dann aufhängen müssten. Ja, genau so würde es sein.

Feiern fernab der Heimat

Denkste! Sie hörten zumindest eine Weile höflich zu, waren aber nicht sonderlich an meinen Dosen mit der Kuchenfüllung interessiert (ich hätte doch eher einen echten Kürbis-Pie backen sollen). Der Handtruthahn beschäftigte sie ein Weilchen länger, aber am Ende landeten die meisten Hähne wohl doch im Papierkorb. Als ich erklärte, dass es beim Thanksgiving-Dinner Tradition sei, sich für etwas zu bedanken, geriet das Unterfangen schließlich völlig aus dem Ruder. Auf meine Frage, wer den Satz „Ich bin dankbar für…“ ergänzen wollte, fielen schnell Sätze wie „Ich bin dankbar, dass der Nikolaus mir ganz viele Süßigkeiten bringen wird.“ (sie hatten schließlich Weihnachten als nächstes großes Fest auf dem Radar). Also bemühte ich mich zu erklären, dass „Ich bin dankbar für“ nicht bedeutete „Ich wünsche mir, dass“!

Meine Versuche, den Kindern die hohe Bedeutung von Thanksgiving für uns Amerikaner nahezubringen, wurden immer verzweifelter. Das Ganze war sehr bizarr und verstärkte nur mein Heimweh, das an Feiertagen ohnehin in mir hochkommt. Ich fühlte mich so abgekapselt, isoliert in einer Welt, die ohne dieses wunderbare Fest auskommen musste, das mir, nachdem es früher für mich ganz selbstverständlich war, jetzt plötzlich sehr fehlte. Und nicht nur das Essen und die freien Tage – ich vermisste die Geborgenheit meiner Familie.

Trotz dieses wenn auch etwas enttäuschenden Starts wurde mein erstes Thanksgiving fern der Heimat am Ende recht nett, denn ich schloss mich mit den anderen Lehrassistenten in meinem Programm, darunter Amerikaner und Briten, zusammen. Gemeinsam bereiteten wir die traditionellen Gerichte zu, auch wenn wir hier und da improvisieren und mit dem auskommen mussten, was deutsche Supermärkte hergaben. Die meisten meiner amerikanischen Kollegen hatten für Thanksgiving etwas vorbereitet, und natürlich war ich neugierig, was sie geplant hatten: Fast jeder hatte den Handtruthahn in der einen oder anderen Form auf dem Programm. Bis dahin war mir gar nicht klar gewesen, dass diese kleine Bastelei in den USA so weit verbreitet ist. Durch die Erkenntnis, dass wir diese Erinnerung teilten, fühlte ich mich gleich weniger einsam.

 

Bekannte Traditionen in neuer Aufmachung

Ich habe seither viele Thanksgivings ohne meine Familie verbracht, das letzte Mal kamen wir 2004 zu diesem Feiertag zusammen. Aber ich habe auch an anderen Orten in den USA mit anderen „Thanksgiving-Waisen“ und hier in München mit anderen Expats (Amerikanern und Nicht-Amerikanern) gefeiert. Wahrscheinlich ist das ein gutes Beispiel dafür, wie wir liebgewonnene Bräuche und Erinnerungen an unsere Heimat bewahren und gleichzeitig an neue Umgebungen und Umstände anpassen. Dabei geht es nicht nur darum, wo man sich befindet. Letztlich passt jede Generation die Bräuche an. Vielleicht fällt es uns nur außerhalb des Heimatlandes stärker auf. Auch heute noch vermisse ich an jedem letzten Donnerstag im November meine Familie, aber es fällt mir leichter, wenn ich neue Erfahrungen mit anderen teilen und neue Traditionen gründen kann.

Und nun zu Ihnen: Haben auch Sie als Expat Traditionen aus Ihrer Heimat mitgenommen oder etwas abgewandelt? Oder haben Sie selbst in Ihrem Heimatland Bräuche aus Ihrer Kindheit verändert?

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