Gleiches Wort, unterschiedliche Interpretation
Von Kristin Fehlauer
Aus dem Englischen von Julia Harwardt
Es ist wenig überraschend, dass ich in meiner Fremdsprache Deutsch immer wieder Neues dazulerne. Schließlich habe ich erst im College mit Deutsch angefangen und im Vergleich zu Muttersprachlern, die schon viel länger mit dieser Sprache zu tun haben, viel nachzuholen. Interessanterweise lerne ich aber auch laufend mehr über meine eigene Muttersprache – Englisch – und wie andere Muttersprachler sie verwenden. Es ist für mich ein ewiges Faszinosum, dass Menschen, die im selben Sprachmilieu aufgewachsen sind, unter denselben Wörtern manchmal etwas ganz anderes verstehen.
So richtig fiel mir das zum ersten Mal in meiner Zeit am College auf. Ich unterstützte als Praktikantin eine Konzertreihe, wo ich eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Leiter und einer der lokalen Helferinnen beobachtete. Der Leiter war sehr unzufrieden mit einigen Vorkehrungen an einem der Veranstaltungsorte. Seine Worte waren: „Nein, nein, nein – das klappt so nicht.“
Am nächsten Tag hörte ich zufällig, wie besagte Helferin einem Kollegen von dem Vorfall erzählte und ihren Bericht mit den Worten „… und dann schrie er mich an“ („…and then he yelled at me“) schloss. Das überraschte mich, denn er hatte mit normaler Stimme gesprochen, also nicht „geschrien“. „Yell“ bedeutet für mich, dass jemand laut wird; sie hingegen hatte es im Sinne von „ausschimpfen, tadeln“ verwendet. Damals wurde mir schlagartig klar, dass ich ein völlig anderes Bild von der Situation gewonnen hätte, wenn ich die Szene nicht selbst erlebt hätte, sondern nur von der Erzählung abhängig gewesen wäre.
Meine Liste von Wörtern mit „unscharfer Bedeutung“ geht noch weiter: Für mich beispielsweise schwingt bei „to mutter“ (brummeln, murmeln) immer leichter Ärger mit; für meine Schwester hat das Wort „incredulous“ (skeptisch) einen ähnlich negativen Beiklang. Muttersprachler verbinden also irgendwann eine bestimmte Idee mit einem Wort und haben offensichtlich wenig Anlass, die eigene Auslegung zu hinterfragen.
Dies bringt mich zu einem größeren Problem, mit dem ich schon einige Jahre kämpfe: Wie können wir lernen, persönliche Interpretationen zu hinterfragen? Die meisten der Kommunikationsprobleme, mit denen ich bislang konfrontiert war, beruhten darauf, dass beide Parteien sicher waren, sich gegenseitig richtig verstanden zu haben. Wenn sich alle so sicher sind, wie kann ich mir dann angewöhnen, in diesen Momenten meine Überzeugung zu hinterfragen? Die richtigen Fragen zu stellen, um Missverständnisse aufzudecken? Bislang habe ich darauf keine befriedigenden Antworten gefunden. Ich denke viel darüber nach und arbeite daran, hoffe aber, dass allein mein Bewusstsein für dieses Problem ein erster wichtiger Schritt ist.
Über welche Wörter oder Formulierungen sind Sie und Muttersprachler in Ihrem Umfeld sich uneinig? Welche Strategien verwenden Sie, um Ihre persönlichen Interpretationen zu erkennen und zu hinterfragen?