Perspektivwechsel: Wozu vorlesen?

Posted Dezember 10, 2021

Englisch

Von Solveig Rose-Mollard

„Mama, Buch!“, höre ich jeden Abend. Und ohne geht mein Zweijähriger auch nicht ins Bett. Aufmerksam sitzt er neben mir in seinem Vorlesesessel (bitte nicht auf dem Schoß!) und saugt förmlich alles in sich auf, was er sieht und hört. Wenn das Buch seiner Wahl dann doch zugeklappt werden muss, kullern schon auch einmal ein paar Tränchen.

Obwohl nach einem langen, arbeitsreichen Tag bisweilen etwas strapaziös, genießen sein Papa und ich dieses Ritual. Natürlich ist allgemeinhin bekannt, dass Vorlesen förderlich ist: für den Wortschatz, die Fantasie, die Konzentration, das Lesenlernen. Eine Studie hat ergeben, dass in wohlhabenden Ländern wie Deutschland die Bildungschancen eines Kindes maßgeblich davon abhängen, wie viele Bücher in ihrem Zuhause im Regal stehen und wie intensiv ihnen der Umgang damit nahegebracht wird. Hierzulande wird Vorlesen durch verschiedenste Organisationen und Institutionen, darunter beispielsweise die Stiftung Lesen, gefördert. Hier findet man Tipps, welche Bücher sich für welche Altersgruppe eignen und worauf man beim Vorlesen achten sollte, sowie wissenschaftlich belegte, schlagkräftige Argumente, weshalb Vorlesemuffel doch über ihren Schatten springen sollten. Sogar einen „bundesweiten Vorlesetag“ hat Deutschland eingeführt: So finden jährlich an jedem dritten Freitag im November Aktionen rund ums Vorlesen statt. Der allgemeine Tenor: Eltern, lest für eure Kinder!

Doch was ist eigentlich mit den Eltern respektive Erwachsenen? Ist Vorlesen nur den Kindern zuträglich? Eine Frage, die offenbar angesichts der Bemühungen ums Kindeswohl in den Hintergrund gedrängt wird. Dabei ist es für Erwachsene durchaus bereichernd, sich einmal wieder durch Kinderaugen mit unserer Welt zu beschäftigen. Tatsachen, die für uns „Große“ zum Alltag gehören, werden plötzlich hinterfragt. „Schau, da fliegt ein Vogel!“ – „Wieso kann der fliegääään?“ Ja, warum eigentlich? Bücher, die eigentlich den Kleinen die Welt erklären sollen, öffnen nicht selten auch uns die Augen auf Alternativen und neue Sichtweisen auf das Leben. Auf einmal nimmt man wahr, was lange keine Beachtung mehr fand. Die Tiere, die von brummenden Autos und lärmenden Menschen im Wald aufgeschreckt werden? Müll, der achtlos dahingeworfen am Wegesrand vergammelt? Sommersonnenstrahlen, die uns an kalten Wintertagen von innen wärmen? Oft überlagert der stressige Arbeitsalltag, die viel, aber oftmals zu Recht zitierte Erwachsenenwelt, die Beschäftigung mit den kleinen, aber feinen Dingen des Lebens. Unsere Stundenblumen verblühen wie im Flug – da kann ein Moment des Innehaltens (auch abseits der „staaden“ Zeit) wohltuend wirken.

Aber auch ohne die unschuldige Kinderperspektive bietet Vorlesen Gelegenheit zum Entschleunigen, zur Besinnung und zur Kontemplation. Nicht selten überfliegt man bei der stillen Lektüre, sei es in Journalismus oder Literatur, Zeilen oder ganze Seiten, um schnell auf den Punkt zu kommen. Oder würdigen Sie beim Leiselesen tatsächlich jedes Komma, jeden Gedankenstrich gebührend? Die lautmalerische Beschäftigung mit Text lässt uns tiefer in das Gelesene eintauchen, die Zeit stillstehen und liefert anschließend oder zwischendurch Gesprächsstoff zum gemeinsam Gehörten, aus dem sich auch weiterführend ein interessanter Austausch entspinnen kann, der viel – vielleicht gar Ungeahntes – über den oder die (Lese-)Partner verrät.

Für uns als deutsch-französisches Übersetzer-Elternpaar hat die Bücherliebe unseres zweisprachig aufwachsenden Sohnes übrigens noch einen Schulungseffekt: Ob sein aktuelles Lieblingsbuch auf Deutsch oder Französisch ist, hält ihn keineswegs davon ab, es von uns beiden einzufordern. Im Studium schien das Stegreifübersetzen, bei dem ein schriftlicher Text spontan und ohne große Vorbereitung mündlich in eine andere Sprache übertragen wird, meist eine trockene, teils sogar qualvolle Angelegenheit zu sein. Hier wird es zu einer neuen Herausforderung: Nachdem jeder Elternteil grundsätzlich nur in seiner Muttersprache mit unserem Sprössling spricht, muss die betreffende Geschichte nicht nur korrekt, sondern auch ansprechend und packend stegreifübersetzt werden. Denn kommt Mama doch einmal ins Stocken, weil ihr auf Deutsch die richtige Formulierung eben gerade nicht einfällt, heißt es sonst ganz schnell: „Mama, nee. Papa!“

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