Der Fluch des Wissens

Posted September 30, 2022

Englisch

von Gerfried Ambrosch
Aus dem Englischen von Maria Wolf

 

Oft fällt es uns schwer, uns in jemanden hineinzuversetzen, der nicht weiß, was wir wissen. Diese „weitverbreitete Schwäche des menschlichen Verstandes“, wie Evolutionspsychologe Steven Pinker es in seinem Buch „The Sense of Style“ bezeichnet, kann unsere Kommunikationsfähigkeit stark beeinträchtigen. Ob Kommunikation gelingt, hängt schließlich auch davon ab, inwieweit wir uns in unser Gegenüber hineinversetzen können.

Bis zu einem gewissen Alter können Kinder ihr Wissen gemeinhin nicht von dem anderer trennen, wie ein berühmtes Experiment zeigt, in dem ein Kind einen Raum betritt, eine Bonbonschachtel öffnet und darin zu seiner Überraschung Stifte findet. Auf die Frage, was ein anderes Kind, das nicht Zeuge des Vorgangs wurde, wohl in der Schachtel vermuten würde, antworten nahezu alle Kinder: „Stifte.“ Sie sind sogar fest davon überzeugt, dass auch sie schon vorher gewusst haben, dass die Schachtel Stifte enthält.

Nach Pinker verwächst sich diese kognitive Schwäche mit dem Alter, allerdings nicht ganz und mit unterschiedlicher Ausprägung. In vielen Situationen kommt es uns noch nicht einmal in den Sinn, dass unser Gesprächspartner möglicherweise nicht weiß, was wir wissen. So ist es zum Beispiel nicht so einfach, Ortsfremden in unserem Wohnort den Weg zu weisen, denn für uns logisch und offensichtlich erscheinende Bezugspunkte sagen ihnen in der Regel gar nichts. Vermutlich können sie sich noch nicht einmal vorstellen, was wir meinen, während wir vor unserem inneren Auge einer klar strukturierten Karte folgen.

Schreibblockade

Das gleiche Prinzip lässt sich analog auf das Schreiben übertragen, vor allem wenn es darum geht, Laien Fachwissen zu vermitteln. „Der Fluch des Wissens“, schreibt Pinker, „ist die einzig wahre Erklärung dafür, warum gescheite Menschen schlechte Prosa verfassen. Weder erahnen [sie] die notwendigen, ihnen jedoch zu offensichtlich erscheinenden Zwischenschritte“, noch „halten sie es für nötig, Fachbegriffe oder ihre Logik zu erläutern oder wichtige Einzelheiten mitzuliefern“.

Ein Zyniker würde behaupten, undurchsichtige Prosa sei beabsichtigt, ganz im Sinne von Nietzsches Aphorismus: „Wer sich tief weiß, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit.“ Als Akademiker, der sich dem Literatur- und Kulturstudium – einem für seine fachsprachlich verschwurbelte und hochtrabende Rhetorik berüchtigten Fachgebiet – gewidmet hat, halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass diese Behauptung einen Funken Wahrheit enthält. Hingegen warnt uns ein anderes Sprichwort, auch bekannt als „Hanlon‘s Razor“ (deutsch: Hanlons Rasiermesser): „Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch Unvermögen hinreichend erklärbar ist.“ Mit anderen Worten: Der Fluch des Wissens, der paradoxerweise Autoren für die Unkenntnis ihrer Leserschaft blind macht, erklärt möglicherweise, warum manche Texte so unverständlich sind.

„Lost in translation“

Besonders beim Übersetzen kann der Fluch des Wissens zum Verhängnis werden. So können zum Beispiel kulturelle Bezüge, die nur in einem bestimmten Sprachraum Bedeutung haben, bei der Übersetzung zu Verwirrungen führen. Professionelle Übersetzer haben hierfür selbstverständlich elegante Lösungen in petto. Ein besonderer Fallstrick beim Übersetzen sind auch Namen, zum Beispiel von Produkten oder Orten, die Hinweise enthalten, die dem Übersetzer offenkundig erscheinen, dem der Ausgangssprache Unkundigen jedoch verborgen bleiben. Dies ist häufiger der Fall, als man denkt.

Hier ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung als Weinreiseführer in Wien und Niederösterreich: Der Besitzer einer malerischen kleinen Weinstube, die wir auf unseren Touren häufig besuchten, servierte stets eine regionale Spezialität, bekannt als „Gemischter Satz“, einen traditionellen Wein, der aus unterschiedlichen, aber gemeinsam angebauten, gekelterten und gegorenen Rebsorten hergestellt wird. Ohne Umschweife betonte der Wirt gegenüber unseren englischsprachigen Gästen stets: „Das ist KEIN Cuvée!“ Mein erster Gedanke war: Wieso sollten sie glauben, dass es einer ist? Doch dann dämmerte es mir, dass für ihn klar war, dass der Name „Gemischter Satz“ unweigerlich mit einem Mix verschiedener Weine assoziiert werden würde. Der Gedanke, dass einer der deutschen Sprache nicht Mächtiger diese Verbindung gar nicht herstellen würde, lag ihm fern. Ein anderes Beispiel waren Ortsnamen wie Bisamberg: Lokale Weinbauern nahmen häufig auf die Geographie dieses Weinanbaugebiets vor den Toren Wiens in einer Weise Bezug, die nur versteht, wer weiß, was „Berg“ auf Deutsch bedeutet.

Vom Wissen zum Verstehen

Angesichts unserer begrenzten Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen und Dinge aus ihrem Blickwinkel zu betrachten, sind solche Fehler schnell passiert. Bin ich im vorherigen Abschnitt nicht selbst Opfer des Wissensfluchs geworden, indem ich nicht erklärt habe, was ein Cuvée ist? Nicht unbedingt jeder weiß, dass eine Cuvée im deutschen Sprachgebrauch ein Verschnitt mehrerer Rebsorten ist. Hier handelt es sich möglicherweise um einen Grenzfall. Aber wo liegt die Grenze? Wann ist es sinnvoll davon auszugehen, dass die Mehrheit der Leser die Bedeutung eines Wortes oder Ausdrucks kennt? Das ist manchmal schwer zu beantworten.

Während es ratsam ist, sich im Zweifelsfall auf die sichere Seite zu begeben, kann zu viel Information Kommunikation ebenso zum Scheitern bringen. Weniger ist tatsächlich oft mehr. Lange, mit unzähligen Details vollgestopfte Sätze sind schwer zu entschlüsseln und zu verstehen. In vielen Fällen ist dieses Phänomen jedoch auch wiederum nur dem Fluch des Wissens zuzuschreiben: Der Autor erwartet wohl von seinen Lesern das Wissen und die Erfahrung, um die Spreu vom Weizen zu trennen – was sich allerdings nicht empfiehlt, wenn man etwas Wichtiges vermitteln möchte.

Wie können wir also dem Fluch des Wissens entrinnen? Wie können wir empathischer miteinander kommunizieren? Nach Pinker „muss jeder, der den Fluch des Wissens brechen möchte, zunächst seinen heimtückischen Mechanismus erkennen. Wie ein Betrunkener, der zu betrunken ist, um zu begreifen, dass er nicht mehr fahrtüchtig ist, bemerken wir den Fluch nicht, denn gerade das verhindert er.“ Aber wenn wir ihn ertappen, können wir ihn brechen und uns bewusst machen, wie etwas für jemanden klingen mag, der nicht weiß, was wir wissen. Letztlich müssen wir uns ja nur daran erinnern, wie es war, als wir selbst noch unwissend waren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.