Mit einem Schlag in die Moderne

Posted Januar 30, 2018

Englisch

von Richard Peters, aus dem Englischen von Julia Harwardt

Die Moderne schleicht sich gerne von hinten an uns heran – um uns schlagartig mit Neuerungen zu konfrontieren.

 

Danke! Oder doch nicht?

Es war ein ruhiger Abend nach einem langen Tag. Ich saß gemütlich zu Hause auf dem Sofa, nippte an meiner Tasse Tee und knabberte nebenbei ein paar Kekse, während ich noch einige Mails beantwortete. Ich war schon fast fertig und wollte nur noch jemandem eine Mail mit einem PDF-Anhang senden. Also schrieb ich meine Mail, klickte auf Senden, als sich plötzlich Gmail mit der Warnung zu Wort meldete: „Möglicherweise haben Sie den Dateianhang vergessen. Sie haben in Ihrer Nachricht das Wort ‚im Anhang‘ verwendet, aber keine Dateien angehängt. Möchten Sie die Nachricht trotzdem versenden?“

Die Meldung löste einen Gefühlssturm aus: Schock – irgendeine gesichtslose Software LIEST einfach meine Mails! Erleichterung– wie peinlich wäre es gewesen, wenn ich die PDF vergessen hätte anzuhängen! Scham –  ohne Hilfe scheine ich noch nicht einmal mehr die einfachsten Dinge auf die Reihe zu bekommen! Ärger – über meine Schusseligkeit! Besorgnis – angesichts der harten Landung in der Gegenwart. Dieser digitale Dolchstoß entzog mir jegliche Lebensenergie. Ich war so geschwächt, dass ich sogar meinen Keks aus der Hand legen musste.

 

Älter? Ja. Weiser? Hm.

Vielleicht liegt es einfach an mir: Ich bin Mitte 40 und womöglich nun gerade dabei, ein miesepetriger alter Mann zu werden. Im Grunde betrachte ich mich als einen der ersten Digital Natives, schließlich habe ich als Grundschüler nachmittags schon auf einem Sinclair ZX80 Computerspiele gezockt. Andererseits kann ich mich aber auch noch an Modems und Disketten erinnern. Vielleicht bin ich also in der heutigen Welt, wo jeder ständig online ist, bei Snapchat, Minecraft und diversen Gaming-Meisterschaften, doch eher so etwas wie ein digitaler Dinosaurier.

Wer mich kennt, weiß zwar, dass ich gelegentlich neben der Spur sein kann, im Allgemeinen aber mit dem Leben im 21. Jahrhundert klarkomme. Zumindest habe ich das bislang von mir gedacht: Ich nutze regelmäßig Carsharing (und lasse mittlerweile auch keine wichtigen Gegenstände mehr auf dem Beifahrersitz liegen), ich whatsappe mit meinem Zwei-Daumen-Tippsystem so schnell wie jeder Teenager und kenne mein 20-stelliges WLAN-Passwort auswendig. Ich halte mich über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden und weiß um den Siegeszug von Big Data und seine Bedeutung für die unheimlichen Fähigkeiten von Amazon und Co., meine Wünsche und Bedürfnisse auf Basis von Algorithmen zu prognostizieren.

An fraglichem Abend jedoch war ich einfach nicht darauf gefasst, dass mein eigenes E-Mail-Konto mich so mütterlich-gluckenhaft an die Hand nehmen, fast schon bevormunden würde. Wie viele andere Menschen hier in Deutschland und der restlichen Welt beunruhigt es mich, dass Internetkonzerne immer mehr und mehr Daten über uns sammeln und uns ihre Erkenntnisse in Form unwiderstehlicher Kaufangebote vor die Nase halten. Ich sah meine Souveränität als Individuum eingeschränkt, fühlte mich hoffnungslos verloren in einer wirklich gewordenen Matrix, als Gmail erst meine Absichten interpretierte und dann selbstständig eingriff – auch wenn die Interpretation noch so korrekt war und der Eingriff am Ende (wenn auch widerwillig) eben doch akzeptiert wurde.

 

Datenflut und Datenwut

Wir sind heute ständig von Informationen umgeben. Alles, was wir online machen, wird irgendwo gespeichert, jeder unserer Schritte von unseren Handys aufgezeichnet: George Orwell und seine dystopische Vision eines allgegenwärtigen Überwachungsstaats lassen grüßen. Vor Kurzem habe ich zum Beispiel gelesen, dass britische Polizeikräfte derzeit Fotos von über 20 Millionen Einwohnern (fast einem Drittel der britischen Bevölkerung) gespeichert haben – obwohl die britische Regierung weder eine Strategie für den Umgang mit biometrischen Daten noch eine rechtliche Grundlage für diese übergriffige Nutzung von Daten hat.

Auch unsere persönlichen Daten, die wir online preisgeben, sind ein ständiges Angriffsziel für Hacker. Ein besonders empörendes Beispiel dafür ist Yahoos Meldung (fast fünf Jahre nach dem eigentlichen Vorfall), dass alle drei Milliarden Kundenkonten, die das Unternehmen 2013 führte, gehackt worden waren.

Unternehmen sind aber nicht nur Opfer, sondern manchmal auch Täter. Vor einigen Jahren flog ich nach Manchester und lieh mir am Flughafen einen Mietwagen. Als ich das Formular am Schalter der Autovermietung ausfüllte, bat mich der Mitarbeiter, auf einem kleinen Pad mit einem Stift, die beide mit seinem PC verbunden waren, eine elektronische Unterschrift abzugeben. Aus reiner Neugier fragte ich, was das Unternehmen denn mit meiner Unterschrift anstellen würde. Die locker-flockige Antwort lautete: „Ach, die wird nach zwölf Monaten archiviert.“ Archiviert, wohlgemerkt, nicht gelöscht. Wozu bitte?

 

Daten, die die Welt verbessern

Natürlich ist jeder Datenmissbrauch abscheulich, aber wir dürfen darüber nicht vergessen, wie viel angenehmer unser Leben ist, weil genau diese Daten auch gezielt zu praktischen Zwecken verwendet werden.

Es ist schließlich ziemlich mühselig, ohne Google Maps herauszufinden, wie wir am besten unseren Zielort erreichen und welche Straßenbahnen und Züge uns dorthin bringen. Und wer will ernsthaft noch in seiner Bank Schlange stehen, um Zahlungen anzuweisen, Geld zwischen zwei Konten zu transferieren und einfach nur den Kontostand einzusehen? Und wahrscheinlich würden wir uns ohne E-Mails, Chats und Tweets, die automatisch auf unseren Smartphones erscheinen, am Ende doch recht einsam und allein auf der Welt fühlen.

Die Chancen stehen nicht schlecht, dass wir in einigen zentralen Lebensbereichen künftig von der wachsenden Sammlung und Analyse persönlicher Daten profitieren. Drei Beispiele: Mobilität mit vernetzten Fahrzeugen, die durch die Analyse von Fahrerverhalten und autonome Eingriffe Unfälle verhindern und so Leben retten können; das Gesundheitswesen, wo wir durch eine umfassendere Nutzung unserer Daten genauere Diagnosen erstellen und allgemeine Entwicklungen für die Gesamtbevölkerung identifizieren könnten; und Verwaltungsprozesse, wo durch intensiven Datenaustausch nicht nur größere Verantwortlichkeiten, sondern auch neue Lösungen für Probleme entstehen können, zum Beispiel in der Verbrechensprävention.

Von meiner Arbeit in der internationalen Unternehmenskommunikation weiß ich, dass die Welt sich immer stärker vernetzt – im Grunde warte ich eigentlich nur auf den Tag, wenn meine Schuhe mir mitteilen, dass sie mal wieder geputzt werden könnten. Da wir in der Welt von morgen höchstwahrscheinlich immer häufiger in bis dato unbekannten Formen mit brandneuer Technik in Berührung kommen werden, müssen wir uns wohl oder übel daran gewöhnen, dass uns der technische Fortschritt hin und wieder einen Schlag versetzt. Solange kein Strom dahintersteckt, werde ich das schon aushalten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.