Evolution in Aktion
Von Richard Peters
Aus dem Englischen von Julia Harwardt
Eine in meinen Augen besonders schöne Seite an meiner Arbeit als Übersetzer und Redakteur ist, dass ich sprachliche Entwicklungen direkt miterlebe. Von Zeit zu Zeit stellt ein bestimmtes Ereignis die Welt auf den Kopf – und wie wir über dieses Ereignis sprechen, verändert auch unsere Sprache.
Die unaufhaltsame Ausbreitung neuer Wörter
Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Covid-19-Pandemie. Die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Virus auf unser Leben hat nicht nur bislang selten verwendete Begriffe in der Alltagssprache verankert oder ihnen eine neue Bedeutung verliehen – man denke an „Lockdown“, „Komorbidität“ oder „Selbstisolierung“ –, sondern auch ganz neue Wörter und Phrasen hervorgebracht. Dazu gehören „infodemic“ („Infodemie“, für die Verbreitung verschiedenster, oftmals ungesicherter Informationen zu einem bestimmten Thema) und „flattening the curve“ („die Kurve abflachen“, für Maßnahmen, die die Infektionsraten reduzieren und so einen steilen Anstieg der Infektionskurve verhindern sollen).
Solche Entwicklungen können subtil und auf überraschendem Wege ablaufen. Nehmen wir als Beispiel den Begriff des „social distancing“: Über viele Jahre wurde dieser recht seltene Begriff in Zusammenhang mit Menschen verwendet, die sich bei sozialen Zusammenkünften lieber absondern oder solche Veranstaltungen sogar komplett vermeiden. Durch die Pandemie ist dieser Begriff mittlerweile in aller Munde, nun allerdings als Aufforderung, zum Selbst- und Fremdschutz vor einer Ansteckung einen Abstand von 1,5 Metern zu anderen Personen zu halten. Der Hintergrund ist bekannterweise, dass die Tröpfchen, die mit der Ausatmung austreten und Coronaviren enthalten können, diese Distanz meist nicht überwinden.
Diese Flut an Neuerungen lässt sich in allen Sprachen beobachten, nicht nur im Englischen. Das Neologismenwörterbuch des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache umfasst Hunderte neuer Ausdrücke, die auf die eine oder andere Weise mit Covid-19 in Zusammenhang stehen. Auch wenn einige davon vielleicht bald in Vergessenheit geraten oder einer gängigeren Variante Platz machen, werden viele dieser Begriffe zweifelsfrei fortbestehen – zumindest, solange die Pandemie andauert.
Mal groß, mal klein, mal irgendwas dazwischen
In meinem Blog verwende ich „Covid-19“– aber warum? Die englischsprachige Welt teilt sich in zwei Lager: diejenigen, die wie ich diese Schreibweise verwenden, und die, die die Variante COVID-19 bevorzugen. Ich habe mich aus ästhetischen Gründen dafür entschieden und vermute, dass mir die meisten Journalisten und Autoren ohne wissenschaftlichen Hintergrund meinem Argument zustimmen würden. In wissenschaftlichen Artikeln findet sich meist die Variante, in der durchgängig Großbuchstaben verwendet werden. Die Variante mit durchgehender Kleinschreibung, d. h. covid-19, findet sich in nur wenigen Artikeln – eine prominente Ausnahme ist The Economist –, dasselbe gilt für die Schreibung „CoViD-19“, die, wenn sie auch dem vollen Namen stärker Rechnung trägt, zumindest in meinen Augen höchst unansehnlich ist.
Bei meiner Arbeit komme ich mit verschiedenen Kulturkreisen in Kontakt und finde es faszinierend, wie sich in den einzelnen Ländern unterschiedliche Kurzformen für das Coronavirus etabliert haben. Hier in Deutschland ist im Allgemeinen schlicht von „Corona“, in der englischsprachigen Welt hingegen von „Covid“ die Rede (in manchen Kreisen aber auch „Miss Rona“ oder „the ’rona“). Auch in Frankreich hat sich „Covid“ durchgesetzt, wobei noch darüber debattiert wird, ob dieser Begriff nun maskulin ist (wie es die breite Öffentlichkeit sieht) oder feminin (wie von der Académie Française im Mai auf ihrer Website in einem Blog festgelegt).
Ein anderes aktuelles Beispiel für sprachliche Evolution in Aktion und gerade für mich als Deutsch-Englisch-Übersetzer ein rotes Tuch: schlechte englische Übersetzungen, in denen der aktive Verbalstil, den jeder englische Muttersprachler eigentlich bevorzugt, dem typischen deutschen Nominalstil geopfert wird.
Tritt- und sprachsicher auch im Nahverkehr
Seit einigen Monaten herrscht in Münchens öffentlichen Verkehrsmitteln Maskenpflicht, auf die auch per Lautsprecher hingewiesen wird. Damit auch Reisende ohne Deutschkenntnisse die Aufforderung „Bitte beachten Sie die Maskenpflicht“ verstehen, folgt im Anschluss eine englische Durchsage – die zunächst in der schrecklich gestelzten Direktübersetzung „Please observe the mask obligation“ resultierte.
Wie ich aber vor Kurzem feststellen durfte, wurde diese fürchterlich deutsch klingende Aufforderung umformuliert und lautet nun „Please be aware that you must cover your mouth and nose“ – eine klare Verbesserung, die mich nicht nur sehr erfreut, sondern auch zeigt, dass jemand bei der Münchner Verkehrsgesellschaft MVG den dringenden Handlungsbedarf offensichtlich erkannt hat.
Vielen Dank also an die MVG, die damit nicht nur einen Blick für sprachliche Details bewiesen hat, sondern auch mithilft, München und seine Bewohner in Zeiten der Pandemie – und der fortlaufenden Evolution der Sprache – zu schützen.