Kurator meines Lebens
Von Colin Rae
Aus dem Englischen von Gerfried Ambrosch
Vor einundzwanzig Jahren – ich war ungefähr halb so alt wie heute – begab ich mich auf eine Reise, die für mich alles verändern sollte. Ich hatte gerade mein drittes Jahr am Edinburgh Art College beendet und einen Praktikumsplatz bei der Chinati Foundation im texanischen Marfa ergattert. Dort gewann nicht nur meine künstlerische und schreiberische Arbeit einen neuen Fokus; es sollte sich auch eine Tür in ein neues Leben auftun – und das ausgerechnet in Deutschland.
Bangen, Angst, Aufregung, Verwirrung: Ein wilder Gefühlsmix erfüllte mich, als ich im Taxi durch die kurvigen Straßen Edinburghs in Richtung Flughafen fuhr. Von dem Zick-Zack auf dem glatten Kopfsteinpflaster durchgebeutelt, wurde mir erstmals so richtig bewusst, worauf ich mich da eingelassen hatte: Ich war gerade erst 21 geworden und würde die nächsten drei Monate in einer winzigen Stadt im äußersten Westen Texas‘ zubringen. Was hat mich bloß geritten, über 5.600 Kilometer zurückzulegen, um den Sommer in einem 2.000-Einwohner-Kaff mitten in der Wüste zu fristen? Die Antwort war einfach: meine Leidenschaft für die Kunst.
In der Kunst wie beim Übersetzen: Auf den Kontext kommt es an
Wer alles über die Geschehnisse jenes Sommers erfahren möchte, wird sich wohl bis zur Veröffentlichung meiner Memoiren gedulden müssen. Auch im Detail zu erläutern, was es mit der Chinati Foundation auf sich hat, würde den Rahmen sprengen. Deshalb hier die Kurzfassung: Das Museum wurde 1986 von dem Künstler Donald Judd (1928–1994) ins Leben gerufen, der – vielleicht mehr als jeder andere Künstler – großen Wert darauf legte, wie seine Arbeit installiert und ausgestellt wurde. Es handelt sich dabei um ein öffentliches Museum, „in dem es den Kunstschaffenden obliegt, wie sich ihre Arbeit in permanenter Beziehung zur umgebenden Architektur und Landschaft präsentiert“. Meine Praktikumsaufgaben beinhalteten unter anderem Führungen durch die Sammlung, bei denen mir immer wieder auffiel, wie gut das Museum Störelemente zwischen Werk und Betrachter auf ein Minimum zu reduzieren vermochte.
Die Chinati Foundation liegt auf einer ehemaligen Militärbasis am Rande einer Kleinstadt in der Wüste, also an einem Ort in der Nähe eines Ortes mitten im Nirgendwo. Der Vorteil eines solch entlegenen Standorts ist, dass für die Besucher auch die Ablenkungen des Alltags in weiter Ferne liegen. Denn wo wenig ist, kann einen nur wenig ablenken. Durch das schlicht gehaltene Umfeld kann sich der Besucher voll und ganz auf das Kunstwerk konzentrieren.
Wie Sie vielleicht bereits einem unserer anderen Blogeinträge entnommen haben, ist unsere Tätigkeit als Übersetzer, Redakteure und Texter oftmals ein Balanceakt: Denn bringt man zu viele Informationen ein, kann es passieren, dass man den Blick für das Wesentliche verliert; spart man jedoch zu sehr an Details, kann das zu Verwirrung oder Frustration auf Seiten des Lesers führen. Beim Übersetzen achte ich deshalb stets darauf, alle Informationen aus dem Quelltext möglichst effizient wiederzugeben und nichts hinzuzufügen, was der vom Autor beabsichtigten Aussage hinderlich sein könnte. Kurz gesagt: Inhalt, Kontext, Klarheit.
Der Chinati Foundation gelingt dies bei ihren Dauerinstallationen besonders gut. Meine Lieblingsinstallation in der Sammlung ist wahrscheinlich untitled (Marfa project) von Dan Flavin. Das 1996 fertiggestellte, sich über sechs Gebäude erstreckende Kunstwerk kommt mit seinen unterschiedlich platzierten und interagierenden Leuchtelementen in diesem besonderen Setting erst so richtig zur Geltung. Die Installationen bilden jeweils den Abschluss der U-förmigen Gebäude, die man durch eine Türe auf der gegenüberliegenden, offenen Seite betritt, wobei sich die Sinne des Betrachters aufgrund des plötzlichen Temperaturunterschieds zur draußen herrschenden texanischen Gluthitze sofort schärfen. Außerdem hört man so gut wie keine Geräusche, abgesehen vom warmen, sanften Summen der Leuchtelemente ganz am Ende des Korridors. Natürliches Licht dringt nur durch zwei kleine Fenster auf der Eingangsseite der Gebäudeflügel ein. Die Wände sind leer, glatt und weiß. (Ich erinnere mich an so manchen Besucher, der nicht verstand, dass der ganze Raum Teil des Kunstwerks war, und fragte, was denn da noch an die Wände käme.) In manchen der Gebäude sieht man die Leuchtröhren sofort, in anderen muss man bis ganz zum Ende des Korridors gehen, bevor man sie zu Gesicht bekommt. Wie für das Museum typisch, gibt es keinerlei Schilder oder Aufkleber, die Details über den Namen, die Lebensgeschichte oder die Absichten des Künstlers verraten würden. Auch bei den Führungen sollten wir so wenig preisgeben wie möglich und es den Besuchern überlassen, sich mit dem Kunstwerk vertraut zu machen.
Nur sehr wenige der zahlreichen Museen, die ich bislang besucht habe, können da mithalten. Die meisten sind einfach zu vollgepfropft und unruhig, als dass sie den Besuchern auch nur annähernd dasselbe emotionale Erlebnis beim Betrachten der Kunstwerke zugestehen würden wie die Chinati Foundation. Einige scheinen ihre Gäste sogar mit Absicht vor den Kopf stoßen zu wollen. Ich habe schon minimalistische Skulpturen an Wänden voller Löcher und Schrammen hängen sehen und empfindliche impressionistische Gemälde erschreckend nahe an Luftentfeuchtern, ganz zu schweigen von all dem Beschilderungschaos. Schlechte Installationen machen mich wahnsinnig – nicht zuletzt, weil sie zu 100 % vermeidbar wären.
Galerie der Skrupellosen
Ich folge einem amüsanten Instagram-Account namens greatartinuglyrooms, bei dem sich, wie der Profilname vermuten lässt, alles um Kunstwerke (hauptsächlich Replikate) in äußerst unpassender und wenig schmeichelhafter Umgebungen dreht. Ein Freund und ehemaliger Lehrer aus meiner Kunsthochschulzeit hat eingehend dazu geforscht, wie Kunst ausgestellt wird, und dabei zahlreiche Fotos von „interessanten“ Beispielen gesammelt. Seine Arbeit trägt den passenden Title „Monkey Business“ – angelehnt an Judds „Statement for the Chinati Foundation“: „Irgendwo muss es zeitgenössische Kunst geben, die exemplarisch die ideale Verbindung von Kunst und Kontext repräsentiert. […] Sonst ist Kunst nur Show – ein einziger Affenzirkus.“
Mein Aufenthalt in Marfa eröffnete mir eine neue Welt und erweckte in mir Lust und Mut, sie zu entdecken. Während dieser Zeit lernte ich auch einen Fotografen aus München kennen, der mir anbot, ihm in den USA und Deutschland zu assistieren. In München fühlte ich mich direkt wohl und – um es kurz zu machen – ließ mich dort im Jahr 2003 nieder.
Angesichts meiner neu entdeckten Faszination für das kontextuelle Kuratieren mit dem Ziel, Störfrequenzen zwischen Sender und Empfänger zu minimieren, mag es seltsam anmuten, in ein anderes Land zu ziehen. Denn mein neues Leben in einer fremdsprachigen Umgebung brachte auch ein neues Maß an Interferenz mit sich, die mitunter selbst die einfachsten Dinge umständlich und kompliziert gestaltete. Aber hierher zu ziehen war auch ein Neuanfang, ein neuer Bezugsrahmen für mich und meine künstlerische Arbeit. Die sprachlichen und kulturellen Hürden, auf die ich in meiner neuen Heimat stieß, bestärkten mich nur in meinem Vorsatz, Barrieren niederzureißen. Auch wenn ich wohl immer ein „Zuagroaster“ bleiben werde, kann ich mein Leben hier nach meinen eigenen Vorstellungen „kuratieren“. Alles, was ich seit Marfa künstlerisch und textlich geschaffen habe, war immer dem Versuch geschuldet, einer Idee in ihrem zugedachten Kontext so gut ich konnte Ausdruck zu verleihen.